»Die Rote« und der Verrückte

15.10.2009 - Chiles Nationalelf begeistert

Mit Argentinien, Brasilien und Paraguay setzten sich in der Quali die WM-Stammgäste durch. Lediglich Chile sorgte für eine Überraschung. Was macht den Überflieger so stark?

von Christian Piarowski

  • Text
  • Ähnliches

Die Plaza Italia im Herzen Santiagos gleicht einem Meer in Rot – Menschen drängen sich dicht an dicht, schwenken Fahnen, liegen sich freudestrahlend in den Armen. Chi-Chi-Chi Le-Le-Le! Viva Chile!!! halt es aus tausenden Kehlen. Eine Revolution? Fast. Nach zwölf Jahren Tristesse nimmt Chile wieder an einer WM-Endrunde teil. Der Aufschwung der chilenischen Nationalmannschaft kann man durchaus als Revolution bezeichnet, kam er doch auch dank einschneidender Veränderungen in den verkrusteten Verbands- und Vereinstrukturen zustande.


Bei der Copa America 2007 spielte Chile mit nur einem Sieg noch eine Nebenrolle. Lediglich zwei Jahre später konnte sich die chilenische Nationalmannschaft souverän und vorzeitig für die WM-Endrunde qualifizieren, erzielte dabei mit 31 Toren nach Brasilien (33) die meisten Treffer. Mit dem gestrigen Sieg gegen Ecuador erreichten die Chilenen den zweiten Platz  bei dieser inoffiziellen Südamerikameisterschaft und ernteten damit Lob von allen Seiten.

 

Petition für den Papst: Bielsa soll heilig werden


Für Ivan Zamorano, einer der historischen Größen des chilenischen Fußballs, ist dieser Wandel vor allem einem Mann zu verdanken: »Marcelo Bielsa hat eine Mannschaft geformt, die über ihren Fähigkeiten spielt. In Chile hatten wir vorher immer sehr gute Spieler, aber nie ein wirkliches Team.« Dabei waren Fans und Experten anfangs skeptisch gewesen, ausgerechnet ein Argentinier sollte den Traum von der WM-Teilnahme erfüllen. Der bei Interviews mürrisch, fast abweisend wirkende Bielsa verkörperte für viele das in Chile gern gepflegte Klischee des arroganten Argentiniers. Der holprige Quali-Auftakt mit nur einem Sieg aus vier Spielen schien ihnen Recht zu geben. Mittlerweile sind die Kritiker verstummt, eine Gruppe Fans sammelt sogar Stimmen, um beim Vatikan eine Petition einzureichen: Trainer Bielsa soll heilig gesprochen werden.

Der Heilige in spe kennt allerdings nur eine Religion: »Ich denke Fußball, ich rede Fußball, ich lese Fußball.« In seiner Heimat rufen sie ihn daher auch nur »El Loco«, der Verrückte. Bielsas Philosophie scheint dabei einfach: »Wenn man etwas tut, dann muss man auch versuchen darin der Beste zu werden.« Bedingungslosen Einsatz für den Erfolg zu jeder Zeit, erwartet der Argentinier von allen seinen Mitarbeitern - und von sich selbst.

Gleich nach seinem Amtsantritt ließ Bielsa das Trainingszentrum der Nationalmannschaft »Juan Pinto Durán« modernisieren, ließ neue Trainingsplätze anlegen, schuf eine isolierte Welt, in der sich »la Roja«, die Rote, wie die Nationalmannschaft aufgrund ihrer Trikots genannt wird, vor den Spielen zurückzieht und akribisch auf die nächsten Aufgaben vorbereitet. Bielsa wohnt sogar im Trainingszentrum, kontrolliert dort regelmäßig die Rasenhöhe der Übungsplätze.

»Ich denke Fußball, ich rede Fußball, ich lese Fußball«


Der 54-Jährige gilt als Disziplinfanatiker, abends wird im Mannschaftsquartier schon mal das Internet abgeschaltet, damit die Spieler sich nur auf ihre Aufgaben konzentrieren. Der »Verrückte« siezt seine Spieler, behält beruflich die Distanz. Doch Bielsa ist weder selbstherrlich noch despotisch, Irrtümer gibt er öffentlich zu. Das Erreichen seiner Ziele versteht er als langfristiges Projekt, Fehler auf dem Weg dorthin sind verzeihlich, eigene und auch die der Spieler.

Bielsas Spielphilosophie ist vor allem geprägt von bedingungsloser Offensive. Chile spielt regelmäßig mit drei Stürmern – das gab es vorher nicht. Darunter leidet aber bisher noch häufig die Defensive, zwar schossen die Chilenen die zweitmeisten Tore in der Südamerika-Gruppe, kassierten aber auch deren 22. So lief »La Roja« zu Hause gegen taktisch abwartende Brasilianer ins offene Messer, verlor mit 0:3 -– vor Bielsa hätte Chile jedoch gegen Brasilien gar nicht erst versucht, einen Sieg zu erstürmen.

Der »Verrückte« gilt daher als Reformator des chilenischen Fußballs. Auch weil Bielsa seine Arbeit nicht auf die Nationalmannschaft allein konzentriert, sondern ebenfalls eng mit den Trainern der Jugend- und Frauenmannschaften zusammen arbeitet.

Die jüngste Mannschaft Südamerikas


Bei der Mannschaft kommt Bielsa an. Die Spieler haben seine Philosophie vollständig verinnerlicht, wie zu sehen war beim Spiel in Kolumbien, als Chile bereits in Führung liegend weiter attackierte, um jeden Ball kämpfte. Dabei hätte ein Unentschieden für die Qualifikation gereicht. Doch spielt sie sich einmal in einen Rausch, ist »die Rote« kaum zu bremsen.

Ein großer Trumpf der Chilenen ist, dass sich die Spieler beinahe blind verstehen. Dies liegt zum einen daran, dass im Verlauf der WM-Qualifikation der Stamm der Mannschaft stets beibehalten wurde, zum anderen kennen sich viele Spieler von der gemeinsamen U-20-WM 2007, bei der Chile den dritten Platz belegte. Den Kern der Mannschaft bildet die Achse um Angreifer Humberto Suazo (CF Monterrey), den Mittelfeldspielern Alexis Sánchez (Udinese), Jorge Valdivia (Al-Ain) und Matias Fernandez (Sporting Lissabon) sowie Verteidiger Arturo Vidal (Bayer Leverkusen). Diese »goldene Generation« hat die in den letzten WM-Qualis schwach auftretende Nationalmannschaft wieder mit Leben gefüllt. Noch nie zuvor holte Chile so viele Punkte seitdem die Qualifikation in einer 10er-Liga ausgespielt wird, der bisherige Rekord lag bei 25.

Da dies mit Spielern gelang, deren Entwicklung erst am Anfang steht, träumen viele Fans bereits von einer großen Zukunft. Chile hat die jüngste Mannschaft aller südamerikanischer Teams, der Altersschnitt der Stammelf liegt bei 24,5 Jahren. Der in Mexiko für Monterrey spielende Humberto Suazo ist mit 28 Jahren der älteste Akteur. Der kleine Angreifer, der nur »Chupete«, der Schnuller, genannt wird, ist mit 10 Treffern der alleinige Torschützenkönig in der Südamerika WM-Qualifikation.

»Chupete«, der Schnuller


Dass Mannschaft und Trainerstab konzentriert arbeiten konnten, ist aber auch den Strukturen des chilenischen Fußballverbandes zuzuschreiben. In Chile fungieren Fußballverband und Ligaverband in einer Symbiose. Präsident beider Institutionen ist Harold Mayne-Nicholls, ein  Journalist, der zusätzlich als Funktionär für die FIFA arbeitet. Der 48-Jährige übernahm sein Amt 2007 und trieb seither konsequent die Modernisierung des chilenischen Fußballverbands voran. Genau wie Bielsa setzt er dabei auf Kontinuität und Disziplin.

»0.4 x 19/20 x Punkte2007 + 0,6 x Punkte2008«

Mayne-Nicholls gelang es, die Vereinspräsidenten der Profiklubs dazu zu bewegen, gemeinsam zugunsten der Nationalmannschaft zu arbeiten. Der, besonders für Europäer, verwirrende Modus der 1. Liga wurde vereinfacht. Noch in der Saison 2008 war dort die kaum nachvollziehbare Rechnung »0.4 x 19/20 x Punkte2007 + 0,6 x Punkte2008« eine Formel, um die Absteiger zu ermitteln. Langfristig ist einen Strukturierung nach europäischem Modell vorgesehen.

Der umtriebige Verbandspräsident konnte desweiteren die Regierung von seinem Projekt begeistern. Anlässlich des 200-jährigen Staatsjubiläums im nächsten Jahr werden für 100 Millionen Euro landesweit Stadionrenovierungen vorgenommen. Dadurch erhofft man sich steigende Zuschauerzahlen in der Liga, wo nur die beiden populären Vereine Colo Colo und Universidad de Chile einen Schnitt von über 10.000 Zuschauern aufweisen.

Auch für die Jugendarbeit werden endlich professionelle Strukturen geschaffen, Förderzentren geplant und regelmäßige Meisterschaften ausgetragen. Ein Lieblingsprojekt des 48-jährigen ist der Frauenfußball. 2008 richtete der chilenische Verband erfolgreich die U-20-WM der Frauen aus. Ausländische Beobachter zeigten sich begeistert von den vollen Stadien und enthusiastischen Fans, auch wenn die eigene Landesauswahl eher kläglich abschnitt. Nun will sich Chile für die Austragung der Frauen WM 2015 bewerben.

Seine Arbeit versteht Mayne-Nicholls als Full-Time-Job, dabei ist die Funktion als Verbandspräsident ehrenamtlich, er bekommt dafür keinen einzigen Peso Gehalt. Seinen Unterhalt bestreitet er mit den Bezügen aus seiner Tätigkeit als FIFA-Funktionär.

Der Verbandspräsident arbeitet ehrenamtlich


Der Erfolg Chiles kam also letztlich Zustande, weil alle Beteiligten bedingungslos zusammen arbeiteten und persönliche Eitelkeiten hinten angestellt wurden für den Traum von der WM-Endrunde. Mit Bielsa und Mayne-Nicholls haben sich zudem zwei akribische Arbeiter gefunden, die sich in ihrer Philosophie gleichen und die ihre Mitmenschen mit ihrer Euphorie anstecken konnten.

Für eine Prognose, welche Rolle die Chilenen in Südafrika spielen werden, ist es noch zu früh. Doch, dass »die Rote« dieses Abenteuer bestens vorbereitet angehen wird, scheint dagegen gewiss zu sein. Bereits in den letzten Monaten organisierte der Verband zahlreich Testspiele gegen Mannschaften aller Kontinente, bei einem Freundschaftsspiel in Südafrika wurde der WM-Gastgeber mit 2:0 bezwungen. Am 14. November tritt die chilenische Auswahl in Köln gegen Deutschland an – ein weiterer Schritt in der Entwicklung eins Teams mit großem Zukunftspotential.